50 Jahre Weltladen Herrenberg
Für dieses Interview haben wir gesprochen mit der ersten Vorsitzenden Katja Klaus sowie mit Vereinsmitglied Martin Petry, der den Vorstand bei den Jubiläumsaktivitäten unterstützt.
1. Bitte stellt euren Laden doch einmal kurz vor: Seit wann gibt es euch, wie viele Leute seid ihr, welche Arbeitsschwerpunkte habt ihr, …?
„Faire Welt e.V.“ wurde 1974 gegründet und im selben Jahr haben wir unseren Laden eröffnet. Unser Verein hat 100 Mitglieder. 30 engagieren sich aktiv in Verein und Laden. Neben Vorstand und Ladenteam haben wir ein Medienteam, ein Dekoteam, eine Bildungsgruppe und die sogenannte Mittwochsgruppe, in der die Vereinsarbeit diskutiert und Aktionen vorbereitet werden. Unsere Arbeit hat drei Schwerpunkte:
- Wir sind ein Fachgeschäft des Fairen Handels
- Wir machen Politische Arbeit und Bildungsarbeit
- Wir unterstützen Partnerorganisationen im Globalen Süden
2. Eine Besonderheit eures Ladens ist ja, dass ein ehemaliger Bundespräsident mal in eurem Laden mitgearbeitet hat. Erzählt mal …
Horst Köhler und seine Frau Eva waren bei der Gründung dabei und wichtiger Teil einer sehr engagierten und kritischen Gruppe. Horst Köhler wurde bei der Gründung Zweiter Vorsitzender. Er und seine Frau haben immer Kontakt zu uns gehalten.
2014, zu unserem 40-jährigen Bestehen, gab er uns in einem sehr spannenden Vortrag einen Einblick in die Entstehung der globalen Entwicklungsziele (SDGs). Er war 2012 vom UN-Generalsekretär Ban Ki-moon berufen worden, gemeinsam mit 26 weiteren international anerkannten Persönlichkeiten an der Erarbeitung der SDGs mitzuwirken.
Zu unserem 50-Jährigen schrieb er in seinem Grußwort: „Als wir 1974 in kleiner Runde in Herrenberg den „Dritte-Welt-Laden“ ins Leben riefen, wollten wir selbst konkret vor Ort aktiv werden angesichts der Armut in den Entwicklungsländern. … Aus dem Reden über die „dritte“ Welt wuchs die Erkenntnis von der Einen Welt, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen. Entwickeln müssen sich nicht nur „Andere“, sondern Entwicklung und Transformation tut gerade auch in den Industrieländern Not.“ … Um den Planeten im Sinne der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung lebenswert zu erhalten, geht es jetzt auch um die Frage nach der Verursachung des Klimawandels.“
3. Eine weitere Besonderheit ist, dass euer Laden in diesem Jahr 50 Jahre alt wird. Was waren die wichtigsten Meilensteine in diesen 50 Jahren? Habt ihr noch Kontakte zu Menschen aus der Gründungszeit?
Alle 40 Personen, die an der Gründung beteiligt waren, einigte der Wunsch, etwas Konkretes zu machen. Es war damals umstritten, ob so ein Laden überhaupt die richtige Aktionsform sei. Zu allen Jubiläen wurde später konstatiert, dass es unseren Verein ohne Laden gar nicht mehr geben würde. Mit dem Laden im Mittelpunkt entwickelte sich der Verein und sein Wirken in die Stadtgesellschaft.
Gleich 1975 war unser Verein an der Gründung des Dachverbands Entwicklungspolitik (DEAB) sowie der Arbeitsgemeinschaft der 3. Welt Läden (seit 1998 Weltladen-Dachverband) beteiligt.
Meilensteine waren unsere Umzüge 2002 und 2021. Mit dem Umzug 2002 begann eine neue Epoche. Das neue Domizil mit den großen Schaufenstern und dem größeren, hellen Verkaufsraum sorgte für eine deutlich höhere Besucher*innenfrequenz, die sich auch in höheren Umsätzen niederschlug. Auch neue Mitarbeiter*innen konnten gewonnen werden. Mit diesem Umzug wurde der Weltladen ein Fachgeschäft des Fairen Handels.
Und nach fast 48 Jahren hat sich der Verein zu einem weiteren Umzug entschlossen. Wir brauchten mehr Platz für unser gewachsenes Warenangebot und die Informations- und Bildungsarbeit. Der Wunsch, die gute Idee des Fairen Handels auch einem neuen Personenkreis näher zu bringen und „sichtbarer“ zu werden in der Stadt, die inzwischen Fairtrade Stadt geworden war, ermutigte uns. Seit Juli 2021 ist der Weltladen direkt am Marktplatz zu finden.
Wir pflegen guten Kontakt zu Mitgliedern aus der Gründungszeit. Eine Reihe von ihnen hat bis ins hohe Alter bei uns mitgewirkt und sind Mitglieder geblieben. Immer wieder hören wir von Ehemaligen Sätze wie „Das Mitwirken in Verein und Laden war eines der Highlights in unserem Leben“.
4. Wie werdet ihr euer Jubiläum feiern?
Natürlich wird es ein Jubiläumsfest geben mit vielen Gästen. Ganz wichtig ist uns aber, unser Jubiläum zu nutzen, um das ganz Jahr über an vielen Orten mit kleineren und größeren Aktionen und vielen für uns neuen Formaten für unsere Anliegen zu mobilisieren. Dazu gehören Stadtrundgänge, eine faire Radtour, eine Aktion mit Kitas und Grundschulen und anschließendem Familienfest, eine Filmreihe, ein ökumenischer Gottesdienst, Schulungen für junge Multiplikator*innen aus Schule und Jugendarbeit, eine Lesung und ein Gast-Besuch der Kinderkulturkarawane.
Einen großen Schwerpunkt legen wir auf das Thema Klimagerechtigkeit und Fairer Handel, dem wir in vielen Aktionen besondere Aufmerksamkeit widmen.
5. Gibt es sonst noch etwas, das ihr über euch erzählen möchtet?
Die nächsten 50 Jahre!? Wie geht es weiter nach der Euphorie des Jubiläums?
Der Laden, der feste Ort in der Mitte Herrenbergs, die Tatsache, dass Krisen gemeistert werden können und immer wieder ein neuer Aufbruch gelingen kann, machen Hoffnung, dass sich Fairer Handel, Faire Beschaffung und Klimagerechtigkeit immer weiter in Bürgerschaft, Gemeinderat und Stadtverwaltung durchsetzen. Dabei möchten wir auch jungen Menschen wieder einen attraktiven Raum für ihre Themen bieten. Bei der Gründung vor 50 Jahren spielten junge Leute eine zentrale Rolle.
Direkt zu Beginn des Jubiläumsjahres gibt es ein Novum im Verein. Die neu geschaffene 25% Stelle einer Bildungskoordinatorin soll den Verein und den Vorstand bei vielen Jubiläumsaktivitäten unterstützen.
Die Entwicklungen der letzten 50 Jahre vom „Dritte Welt Lädle“ zum modernen Weltladen am Marktplatz, sowie die Veränderungen im Verein von „Partnerschaft Dritte Welt“ zu „Faire Welt“ ist eine Geschichte mit Aufbrüchen und Umbrüchen, ständigen Veränderungen, Krisen, und Herausforderungen, die oft kaum bewältigbar erschienen. Das hat neben der Freude über die Weiterentwicklung auch manches Mal Frust oder Enttäuschungen hinterlassen. Aber auch immer wieder Hoffnung und neue Perspektiven geschaffen und die Erkenntnis, dass es auf das Engagement jeden Einzelnen ankommt, um etwas zu bewegen.
Was nach diesen 50 Jahren zählt sind doch die Ergebnisse: Ein wunderbarer Laden, ein großes und stabiles Ladenteam, viele Engagierte in der Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, politische Aktivitäten und lebendige Beziehungen zu Partnerorganisationen und Produzent*innen im Globalen Süden.